Friedrich Dürrenmatt – der Autor
Friedrich Dürrenmatt (1921–1990) zählt zu den bedeutendsten Schweizer Dramatikern und Erzählern des 20. Jahrhunderts. Neben Theaterstücken wie Der Besuch der alten Dame und Die Physiker schrieb er auch Romane und Erzählungen, in denen er gesellschaftliche Fragen mit philosophischem Tiefgang verband. Typisch für Dürrenmatt ist eine Mischung aus Ironie, grotesken Elementen und einer skeptischen Sicht auf die Welt. In seinen Werken stellt er immer wieder die Frage nach Gerechtigkeit, Zufall und der Begrenztheit menschlicher Vernunft.
Mit Das Versprechen veröffentlichte er 1958 eine „Kriminalgeschichte“, die sich bewusst von klassischen Detektivromanen abgrenzt. Dürrenmatt wollte kein weiteres Rätselspiel im Stil von Agatha Christie oder Arthur Conan Doyle schreiben, sondern die Grenzen des Genres aufzeigen. Sein Untertitel lautet daher nicht zufällig „Requiem auf den Kriminalroman“.
Inhalt: Die Geschichte eines tragischen Ermittlers
Im Zentrum der Erzählung steht Kommissar Matthäi, ein erfahrener und geachteter Kriminalbeamter. Auf dem Heimweg von einer Dienstreise wird er gebeten, in einem Mordfall einzuspringen: Ein kleines Mädchen, Gritli Moser, wurde im Wald ermordet aufgefunden. Matthäi muss die erschütterte Mutter trösten und verspricht ihr, den Täter zu finden – koste es, was es wolle.
Obwohl ein vermeintlicher Täter schnell gefasst wird, ist Matthäi nicht überzeugt. Seine Ermittlungen führen ihn zu der Hypothese, dass ein unbekannter Sexualmörder bereits mehrere Kinder auf ähnliche Weise misshandelt und ermordet hat. Um diesen zu überführen, entwickelt Matthäi einen raffinierten Plan: Er lockt den Täter mit einem „Köder“ an, indem er ein Mädchen in der Nähe eines Rastplatzes ansiedelt und die Umgebung überwacht.
Doch der Plan scheitert tragisch. Der Mörder wird tatsächlich angelockt – stirbt jedoch auf dem Weg dorthin bei einem Verkehrsunfall. Matthäi, der nichts davon erfährt, wartet vergeblich. Sein Leben verläuft im Glauben, dass der Täter ihm entkommen ist. Er verfällt in Verbitterung und Verzweiflung, bis er als gebrochener Mann endet.
Themen und Botschaft
Das Versprechen ist weit mehr als eine Kriminalgeschichte. Dürrenmatt nutzt den Fall, um über die Grenzen menschlicher Vernunft und die Unberechenbarkeit des Zufalls nachzudenken. Kommissar Matthäi ist überzeugt, dass logische Deduktion und Ausdauer zur Wahrheit führen müssen. Doch die Realität straft ihn Lügen: Sein Plan war brillant, doch das Leben läuft nicht nach den Regeln des Verstandes.
Die zentrale Botschaft lautet: Der Mensch kann die Welt nicht vollständig ordnen oder verstehen. Gerade im Kriminalroman, wo meist ein Detektiv triumphiert und die Wahrheit ans Licht bringt, zeigt Dürrenmatt die Absurdität dieser Erwartung. Gerechtigkeit wird hier nicht durch Scharfsinn, sondern durch Zufall vereitelt.
Damit ist Das Versprechen auch eine Kritik an der Gattung selbst. Dürrenmatt bezeichnete seine Erzählung als „Requiem auf den Kriminalroman“, weil sie die Illusion zerstört, dass Verbrechen immer aufgeklärt und Schuldige zur Rechenschaft gezogen werden können.
Figuren im Roman
- Kommissar Matthäi: Der tragische Held, dessen Ehrgeiz und Pflichtbewusstsein ihn letztlich zugrunde richten.
- Das Opfer Gritli Moser: Ein unschuldiges Kind, das zum Symbol für das Böse in der Welt wird, das sich rational nicht fassen lässt.
- Der unbekannte Täter: Er bleibt den Ermittlern verborgen, sein Tod geschieht zufällig und entzieht sich jeder Planung.
Diese Figuren machen deutlich, dass das Verbrechen nicht im klassischen Sinne „besiegt“ wird. Vielmehr scheitert die menschliche Vernunft am Chaos der Realität.
Verfilmung: Es geschah am hellichten Tag
Vor der Veröffentlichung von Das Versprechen entstand das Drehbuch zu dem Film Es geschah am hellichten Tag (1958), für den Dürrenmatt selbst die Vorlage lieferte. Der Film wurde von Ladislao Vajda inszeniert und mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle gedreht. Anders als im Roman endet der Film weniger düster: Dort gelingt es dem Kommissar tatsächlich, den Täter zu stellen.
Dürrenmatt war mit diesem optimistischen Ende unzufrieden – er empfand es als zu sehr dem Genre-Klischee verpflichtet. Aus dieser Kritik heraus schrieb er anschließend die literarische Version Das Versprechen, um seine eigene, tragische Variante festzuhalten. Der Film und das Buch stehen somit in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander: Der eine erfüllt die Erwartungen des Publikums, der andere dekonstruiert sie.
Fazit
Das Versprechen ist ein Meisterwerk der modernen Kriminalliteratur – oder besser: ihrer bewussten Auflösung. Friedrich Dürrenmatt zeigt, dass das Leben sich nicht in logische Muster zwingen lässt. Kommissar Matthäi, der sich der Wahrheit verpflichtet fühlt, zerbricht am Zufall und an seiner eigenen Besessenheit.
Der Roman zwingt Leserinnen und Leser, über Schuld, Gerechtigkeit und die Grenzen menschlicher Erkenntnis nachzudenken. Gemeinsam mit dem Film Es geschah am hellichten Tag bildet er ein spannendes Doppel: Hier die optimistische Krimilogik, dort das ernüchternde Bild einer chaotischen Welt.